Zeichen

Der Paradeplatz wurde von einigen Männern in orangen Arbeitskleidungen gereinigt. Die Bahnhoftstrasse war noch menschenleer, in der Ferne quietschte ein Tram. Kirchenglocken schlugen halb fünf. Die Strassenreiniger nahmen ihr Werkzeug unter die Arme und verschwanden in Richtung Bahnhof.
Die ersten Reisenden warteten, Autolärm ertönte - die Stadt erwachte, ein ganz gewönlicher Mittwochmorgen.

Ein etwa fünfzigjähriger Bankangestellter, mit Aktenkoffer und Zeitung, war der erste, der es bemerkte. Er stutzte, schüttelte den Kopf, lockerte den Arm, der die Aktentasche hielt, und schlug die Zeitung auf. Kurz darauf blickte er wieder auf - es war immer noch da! In seinen Gesichtszügen zeichnete sich Entsetzen ab. Er zitterte. Die Zeitung flatterte zu Boden.
Der Zeitungsverkäufer auf der anderen Seite der Strasse beobachtete seit längerer Zeit den Bankangestellten, er bemerkte dessen zuerst ungläubige, dann zunehmend entsetzte Blicke in die Mitte des Paradeplatzes. Er folgte dieser Blickrichtung, wollte zunächst nicht glauben, was er sah, schreckte zurück und versteckte sich hinter einem Billetautomaten. Seine Zeitungen blieben verstreut auf dem Trottoir liegen.

Leichter Nieselregen begleitete die Stadt in den Tag. Die Menschen aber strebten, einem geheimen Ruf folgend, alle dem Paradeplatz zu. Alle schauten angstvoll mit gebannten Blicken in die Mitte des Platzes.

Ein Pfahl stand da, etwa zwei Meter dick, schwarz glänzend, mit glatter Oberfläche. Er stand mitten auf dem Platz, wie wenn es ihn schon immer gegeben hätte. Am Fusse schlossen die Pflastersteine dicht um den Pfahl. Was die Menschen aber aus ihrem Trott warf, war seine Höhe. Er stieg in den Himmel auf, immer noch schwarz glänzend und mit demselben Durchmesser. Der Regen berührte ihn aber nicht. Es umgab ihn eine Aura. Sie strahlte nichts aus, war einfach da. - Der Pfahl auch, er war einfach da.

Ein Kind war es schliesslich, das den Gedanken, oder eher den Aufschrei, laut dachte: "Er hört ja gar nöd uuf! De Pfoschde hört ja gar nöd uuf!"

Der Bankangestellte fuhr unwillig zusammen. Er drehte sich um, packte den Knaben an den Haaren und schrie: "Wottsch ächt ruig sii, heb Dis Muul zue, susch hau der eis druff!" Von allen Seiten wurde Zustimmung laut. Diejenigen, die um das Kind herum standen, beschimpften es von allen Seiten. Eine junge Frau, deren hübsche Gesichtszüge verzerrt waren, gab dem Knaben einen Stoss in die Seite. Ein Mann neben ihr trat den Knaben in den Rücken.
Das Kind wurde hin und her gestossen. Seine Augen weit geöffnet, doch es kam kein Ton aus seiner Kehle. Lautlos spielte sich nun das Ganze ab. Die Menschen begannen auf das Kind einzuprügeln, sie traten es, bis es zu Boden ging.
Die Menschenmenge schloss sich über der Stelle der Untat, die Fäuste lösten sich wieder, die Wut in ihren Augen machte wieder dem Entsetzen Platz. Eisige Ruhe lag über dem Platz. - Totenstille.

Ein junger Mann durchbrach die Stille, er stürzte sich laut aufschreiend mit hoch erhobenen Fäusten auf den Pfahl und hämmerte auf ihn ein. Sein Fäuste wurden blutig, seine Schreie verwandelten sich in Schluchzen. Er sank am Fusse des Pfahles zusammen.
Der Pfahl hatte sich nicht bewegt. Er glänzte immer noch schwarz, das Blut haftete nicht auf seiner Oberfläche - er war unberührt.

Die Menschen sanken zu Boden. Riesige Angst beherrschte sie, sie zitterten. Die Stille begann in ihren Ohren zu dröhnen.

Eine uralte Frau stemmte sich schliesslich auf ihrem Stock hoch. Sie wirkte, als würde sie aus einem bösen Raum erwachen. Mit ihrer freien Hand wischte sie sich über ihr Gesicht, in ihren Augen lag eine wunderbare Ruhe. Die Hände über ihrem Stock verschränkt, den Kopf kraftvoll erhoben, begann sie mit ihrer alten Stimme zu sprechen. Ihre Worte ertönten leise, aber glasklar über den Platz und erreichten jedes Ohr.

"Das ist ein Zeichen! Gott hat uns ein Zeichen gesandt. Nach langer Zeit des Schweigens hat er sich wieder gezeigt. Gott lebt noch! Er hat uns nicht vergessen. Wir sind immer noch seine Kinder, er hat uns nicht verstossen!
Seht ihr das Zeichen? Seht ihr es wirklich? Geht nicht darüber hinweg!

Es gibt Grösseres, als ihr Menschen es seid. Ihr habt geglaubt, ihr wäret die Herren der Schöpfung, ihr habt euch aufgeführt, als gehöre die Erde euch. Ihr habt fast alle Werte verloren, die euch eure Vorfahren mitgegeben haben. Ihr habt geglaubt, ihr könntet ohne Gott leben.
Oh ihr lebensfeindlichen, kalten, grausamen Menschen! Warum habt ihr euch so weit von Gott entfernt? Warum seid ihr so weit vom rechten Pfad abgewichen? In welchen dunklen Wald habt ihr euch verirrt, dass ihr keinen Lichtstrahl mehr erblickt?
Ihr alle seid Kinder Gottes. Ihr alle könnt den Pfad wieder finden, den ihr verloren habt.

Seht ihr dieses Zeichen? Seht ihr es wirklich? Geht nicht darüber hinweg!"

Die alte Frau verstummte. Erschöpft stand sie da und versuchte wieder zu sich zu kommen. Ihre Augen strahlen aus der Tiefe.

Auch all die Menschen auf dem Platz begannen sich zu regen. Auch sie wirkten, als ob sie aus einem tiefen Traum erwachten.
Jene, die das Kind getötet hatten, wichen zurück, nahmen ihre Tat wahr und erschraken tief innen. Die junge Frau kniete nieder, nahm den Kopf des toten Kindes in ihren Arm, wiegte ihn und weinte leise vor sich hin. Der Bankangestellte stand schüchtern vor ihnen, die Hände ringend, die Augen nass. Er blickte voller Trauer auf den Knaben, bückte sich nieder und streichelte seine Wange, dann drehte er sich zum Pfahl hin. Er fiel auf die Knie.
Zum ersten Mal seit dreissig Jahren betete er wieder, er anerkannte Gott. Er spürte die ihm übergeordnete Macht. Er weinte.

Das Kind wurde am Fusse des Pfahles begraben. Ein Lindenbaum wuchs aus der Erde und beschattete das Grab. Und immer lagen frische Blumen auf der Stelle, an der ein Kind begraben lag.


© Daniel Steinemann, Zürich im März 1991